Share

cover art for Review: Diane Setterfield - Was der Fluss erzählt | #26

Tausend Fiktionen

Review: Diane Setterfield - Was der Fluss erzählt | #26

Ep. 26

Was wäre die Welt des Geschichtenerzählens ohne die einleitende Formel “Es war einmal…”, mit der eine Erzählung vergangener Ereignisse eingeleitet wird und die man seit mindestens dem 14. Jahrhundert kennt? So hat diese Formel allein schon etwas Magisches und verbindet uns mit einer vagen Vergangenheit und einen weit entfernten Ort, ohne dass wir genaueres wissen müssen. Etwas trug sich zu, vor langer Zeit, und es ist erhaltenswert. Davon soll berichtet werden. Diane Setterfield tut das, sie leitet ihre Geschichte mit diesem Zauberspruch ein.

Verwendete Musik:

Hard Boiled by Kevin MacLeod
Link: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiled
License: https://filmmusic.io/standard-license

Samba Isobel by Kevin MacLeod
Link: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobel
License: https://filmmusic.io/standard-license

Transkript

Zwei Jahre hat es gedauert, bis wir den dritten Roman von Diane Setterfiled nun auch in Übersetzung vorliegen haben, immerhin eine Autorin, die 2006 mit “Die dreizehnte Geschichte” einen Orkan in der Verlagswelt verursachte. Wie man hört, ist jetzt leider sogar eine TV-Serie zu “Was der Fluss erzählt” geplant; wer die Verfilmung der dreizehnten Geschichte gesehen hat, wird das “leider” leicht verstehen können. Aber so ist das Geschäft. Auf der anderen Seite beweist das aber auch einmal mehr, dass Diane Setterfield ein herausragendes erzählerisches Talent besitzt und hier einen kraftvollen Roman darüber vorgelegt hat, wie wir uns selbst und anderen die Welt erklären, über den Sinn des Lebens in einem Universum, das undurchdringlich geheimnisvoll bleibt.

Was wäre die Welt des Geschichtenerzählens ohne die einleitende Formel “Es war einmal…”, mit der eine Erzählung vergangener Ereignisse eingeleitet wird und die man seit mindestens dem 14. Jahrhundert kennt? So hat diese Formel allein schon etwas Magisches und verbindet uns mit einer vagen Vergangenheit und einen weit entfernten Ort, ohne dass wir genaueres wissen müssen. Etwas trug sich zu, vor langer Zeit, und es ist erhaltenswert. Davon soll berichtet werden. Diane Setterfield tut das, sie leitet ihre Geschichte mit diesem Zauberspruch ein.

In Setterfields sprichwörtlich bezaubernden und verzauberten Geschichte dreht sich alles um den Fluss als Symbol und als metaphysischen Grund der Existenz gerade jener Menschen, die im Einflussbereich fließenden Gewässers leben. Hier ist es die Themse in der Nähe von Oxford, aber auch dieser gewaltige Fluss ist nichts ohne seine zahlreichen Seitenarme, groß und klein. Nicht nur ist der Fluss für das Geschichtenerzählen an sich ein definitives Bild, sondern für das ganze Leben, das, besieht man es sich genauer, ebenfalls nur aus Erzählungen besteht. Man erzählt sich selbst, wer man eigentlich ist und man erzählt es anderen; diese anderen erzählen einem nächsten, wer man ist und vieles, was man selbst erzählt hat, wird schon um die nächste Ecke herum zur Fiktion.

Setterfield erzählt dem Leser diese Geschichte. Was sich wie eine Binsenweisheit anhört, ist im Grunde nur der kleine Kniff, den Leser manches Mal direkt anzusprechen. Das ist am Ende nur konsequent, da die Autorin hier mit Konventionen des Erzählens herumspielt, während sie ihre Geschichtenerzähler im “Swan” durchaus das gleiche tun lässt. Dieses kleine und gemütliche Gasthaus – oder Pub – an der Themse ist neben dem Fluss selbst der Dreh- und Angelpunkt der Geschehnisse um ein rätselhaftes Mädchen, das eines Tages von dem Fotografen Daunt offensichtlich tot in die Gaststube gebracht wird, bevor er aufgrund von einigen Verletzungen ohnmächtig wird. Rita, die herbeizitierte Krankenschwester stellt dann zunächst den Tot des Mädchens fest. Als niemand hinsieht, küsst der Sohn des Gastwirts Jonathan, der am Down-Syndrom leidet, das Mädchen in der Hoffnung, es zu erwecken, wie es der Prinz mit Dornröschen getan hat.

Und siehe da: Als die Krankenschwester zur Leiche zurückkehrt, findet sie statt einer Toten ein lebendiges vierjähriges Mädchen vor. Innerhalb weniger Stunden erreichen die Spekulationen über die Identität des Kindes einen Grad an Verwirrung, den Setterfield auf den folgenden rund 400 Seiten aufrechterhalten kann. Dabei hilft ihr die Tatsache, dass das Mädchen sich weigert zu sprechen, um den Sachverhalt vielleicht aufzuklären.

Nun folgen einige überraschende Wendungen, als nämlich jeder in irgendeiner Form eine Beziehung zu diesem Kind in Anspruch nimmt. Nicht zuletzt gibt es da noch die gespenstische Gestalt eines längst verstorbenen Fährmanns, der in Momenten der Not erscheint, um Menschen entweder ans rettende Ufer zu bringen oder “zur anderen Seite”, sollte ihre Zeit gekommen sein. Im großen und ganzen sind die ländlichen Bewohner des Flusses, der wie gesagt die Themse ist, andererseits aber auch wieder nicht, ziemlich einfältige Arbeiter, die sich ihre Zeit mit der Interpretation der sich immer wieder ändernden Verhältnisse um das Mädchen beschäftigen, um ihren Alltag aufzulockern. Die Geschichte selbst ist dunkel genug und schwebt stets wie hinter einer Wolke, die zum Teil Märchencharakter hat, zum anderen aber Richtung Jane Austen tendiert, nämlich dann, wenn die Hintergrundgeschichten der einzelnen Protagonisten in den Vordergrund rückt, besagte Zu- und Abläufe der eigentlichen Erzählung, die durchflossen wird von Anspielungen und Wasser-Metaphern. Tatsächlich schreibt Setterfield mit nicht geringem Pathos über den Fluss, zum Beispiel, wenn ihr edelmütiger Protagonist Robert Armstrong ihn beschreibt:

“[…] hinter dem hellen, rieselnden Ton von Wasser auf Kies am Uferrand war noch ein Summen zu hören, so, wie einem der Schlag eines Glockenhammers noch als Nachhall in den Ohren klingt, wenn das hörbare Geläut schon vorbei ist. Es hatte noch die Umrisse von Schall, ohne den Klang, gleich einer Federzeichnung ohne Farbe.”

Armstrong, ein schwarzer Bauer, hat Geld und unendliche Reserven an Geduld und Freundlichkeit. Als unehelicher Sohn eines Edelmanns und einer Dienstmagd setzt er sich für die Außenseiter oder auch für ein entsprechendes Tier ein und tritt tatsächlich wie ein Heiliger auf, was die Figur selbst zu einer der Unglaubwürdigsten des ganzen Romans macht. Auf die Spitze getrieben wird das noch, als er eine lahme Frau heiratet, die eine Augenklappe trägt, um ihr verdrehtes Auge zu bedecken. Mit diesem Auge aber kann sie in die Seele der Menschen sehen, was sie aber nur selten nutzt. Setterfield setzt dieses Paar jedoch ganz bewusst ein, um ihre Version der Vergangenheit zu etablieren, in der die Menschen entweder außergewöhnlich anständig sind, über übersinnliche Fähigkeiten verfügen oder unsagbar kriminell sind. Einer dieser Schurken ist derjenige, der die Entführung eines Kindes geplant hat, und ja: in dieser Geschichte gibt es eine Menge verlorener Kinder.

Um das mysteriöse kleine Mädchen, das aus dem Fluss gefischt wurde, und die Jagd nach einem Mörder, der immer noch auf freiem Fuß ist, baut Setterfield einen fantasievollen, detaillierten, atmosphärischen Strom von Ereignissen auf.

Nichts wird in diesem Buch je unterschätzt, und nichts ist einfach, es sei denn, es handelt sich um die dösende Kundschaft des Gasthauses oder um die erbärmliche Gestalt der Lily White, Opfer brutaler häuslicher Misshandlungen und noch viel Schlimmerem. Sie steht am einen Ende des Spektrums, während am anderen Ende die Krankenschwester Rita steht, die unverheiratet ist, aus Angst, bei der Geburt zu sterben, wie es zu viele ihrer Patienten getan haben. Sie repräsentiert sowohl die Welt der hausgemachten Medizin vor Penicillin und chirurgischen Eingriffen als auch das aufkommende wissenschaftliche Zeitalter, in dem Fakten und strenge Beobachtung ein neues Verständnis ermöglichen. Der schwer verletzte Mann, dem sie im Gasthaus wieder zu Gesundheit verhilft, ist Henry Daunt, der sich in der unfehlbaren Formel der romantischen Fiktion kopfüber in seinen dienenden Engel verliebt.

Setterfield lässt ihre mäandernde Erzählung in der Schwebe zwischen Aberglauben und Vernunft, entscheidet sich aber bei ihrem Stil für das Potential, das im Grotesken und in der englischen Schauergeschichte liegt. Am Ende bin ich hin und her gerissen von dieser Flussfahrt, mag den Stil und das Können der Autorin loben, bin aber mit den Figuren nie wirklich warm geworden, um es genau zu sagen: mit keiner einzigen von ihnen, und das, obwohl die Figurenzeichnung nicht weniger umfassend ist wie der Ton des Romans. Es bleibt eine spezielle Geschichte, die mich einerseits angezogen, aber zu gleichen Teilen auch fortgestoßen hat.

More episodes

View all episodes

  • 38. HÖRBUCH: Eric Basso - Der Pestarzt (Kapitel 1) | #38

    15:09
    Anmerkung des Übersetzung: Diese bahnbrechende und legendäre Geschichte  begann ich zu übersetzen, bevor Eric Basso überraschend am 10. Juni 2019 verstarb. Bisher konnte das Lizenzrecht nicht geklärt werden, so dass ich mein Vorhaben aufgeben musste. Tatsächlich gehe ich auch nicht davon aus, dass dafür in Deutschland einen Markt gegeben hätte, aber eine kleine Auflage für Kenner der Weird Fiction hätte mir eine gewisse Genugtuung verschafft. Ich erlaube mir dennoch, das erste Kapitel hier zu präsentieren. Ich verstehe das als einen Kulturauftrag. Wer die Novelle im Original lesen will, kann diese in Jeff & Ann VanderMeers The Weird finden.
  • 37. Der Ursprung der Geister und berühmte Darstellungen in der Literatur | #37

    13:03
    Seit der Mensch sich seiner selbst bewusst ist, scheint er sich auch der Geister bewusst zu sein. Das Konzept der Geister, aber auch der Geistergeschichten, lässt sich bereits in den Anfängen der Menschheitsgeschichte finden und fasziniert die Menschheit seit Generationen. Ein Rascheln in den Büschen, ein knarrendes Geräusch, und die Angst, die sich mit unserem Instinkt zum Überleben verbindet, lässt uns Dinge sehen oder fühlen, die vielleicht nicht da sind. Aber auch der Glaube, dass etwas jenseits des Todes existieren könnte, hält uns gefangen. Weitterführende Sendungen: Die Anfänge der Schauerliteratur Das Spukhaus Die Geschichte der Vampire Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Tranquility Base by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/4542-tranquility-baseLicense: https://filmmusic.io/standard-license Seit der Mensch sich seiner selbst bewusst ist, scheint er sich auch der Geister bewusst zu sein. Das Konzept der Geister, aber auch der Geistergeschichten, lässt sich bereits in den Anfängen der Menschheitsgeschichte finden und fasziniert die Menschheit seit Generationen. Ein Rascheln in den Büschen, ein knarrendes Geräusch, und die Angst, die sich mit unserem Instinkt zum Überleben verbindet, lässt uns Dinge sehen oder fühlen, die vielleicht nicht da sind. Aber auch der Glaube, dass etwas jenseits des Todes existieren könnte, hält uns gefangen. Was ist ein Geist? Was wir heute als Geist interpretieren, hat seine Wurzeln in den Mythen und Überzeugungen der alten Kulturen. Geister oder Gespenster waren und sind manchmal immer noch der Geist einer Person oder eines Tieres, der nach dem Tod des Körpers weiterexistiert. Es liegt zum Teil an diesem Glauben, dass viele Beerdigungsrituale ursprünglich stattfanden und praktiziert wurden, um zu verhindern, dass der besagte Geist auf der Erde verbleibt und die Lebenden verfolgt. Darüber hinaus wird an die Existenz von Geistern oft aufgrund der menschlichen Erfahrung festgehalten, sich verfolgt oder verflucht zu fühlen. Dieses Gefühl wird noch heute nicht gerade selten damit erklärt, sich in der Gegenwart von Geistern zu befinden. Dies kann vom Hören, Sehen, Fühlen, von seltsamen Wahrnehmungen bis hin zu anderen unerklärlichen, unheimlichen Ereignissen reichen. So wird beispielsweise ein unbelebtes Objekt, das sich von selbst und ohne Zutun bewegt, oft als durch einen Geist verursacht zitiert. Die ersten Geistergeschichten Geistergeschichten sind alles andere als ein zeitgenössisches Phänomen. Sie werden seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben, entweder mündlich oder durch das geschriebene Wort. Alte Kulturen glaubten, dass eine menschliche Seele oder ein Geist weiter existiert, wenn der physische Körper das längst nicht mehr tut, und dass es eine jenseitige Welt geben muss. Deshalb war das Erscheinen von Geistern in der lebendigen Welt ein traumatischer und verstörender Gedanke. Der Grund, warum ein Geist in die Welt der Lebenden übergehen sollte, war ein traumatisches Ereignis oder ein unerledigtes Geschäft. Man glaubte, dass dies in der Regel auf eine unsachgemäße Bestattung, Ungerechtigkeit oder die Notwendigkeit zurückzuführen war, dass der Tod gerächt werden musste; eine wirklich unangenehme Erfahrung für die Hinterbliebenen. Diese Geschichten wurden in alten Kulturen auf der ganzen Welt erzählt, von Japan bis Irland. Die Orestie, eine Trilogie griechischer Tragödien, die erstmals 458 v. Chr. aufgeführt wurde, erzählt die Geschichte von Mord, Rache und Gerechtigkeit. Die Trilogie, die weithin als Aischylos' bestes Werk gilt, zeigt eine Figur namens Klytämnestra, einen weiblichen Geist, der Gerechtigkeit gegenüber ihrem Sohn sucht, der sie ermordet hat. Dies ist eine der ersten Erscheinungen eines Geistes in der Literatur und typisch für den altgriechischen Glauben an das Leben nach dem Tod und den Übergang der Geister in die Welt der Lebenden. Plinius der Jüngere Plinius der Jüngere erzählte seine berühmte Geistergeschichte um 100 n. Chr. und beweist damit, dass diese furchterregenden Geschichten seit mindestens zweitausend Jahren alltäglich sind. Seine Geschichte handelt von einem gespenstischen alten Mann mit einem langen Bart und rasselnden Ketten, der in einem großen Haus in Athen herumspukt. Obwohl diese Geschichte vor Tausenden von Jahren erzählt wurde, enthält sie alle wichtigen Bestandteile einer klassischen Geistergeschichte: ruhelose Geister, unerklärliche Geräusche und unheimliche Alpträume. In der modernen westlichen Kultur gehen wir davon aus, dass Geister typischerweise einem “unerledigten Geschäft” nachgehen. Das war bereits bei Plinius der Fall, der in seiner Geschichte erwähnt, dass der kettenrasselnde Geist erst seinen Frieden fand, als seine Leiche entdeckt wurde. Die Römer hatten viele Vorstellungen von Geistern, und obwohl nicht gesagt werden kann, dass sie alle an sie glaubten, kann man doch zu dem Schluss kommen, dass Geistergeschichten beliebt waren. Die Römer glaubten an zwei Arten von Geistern. Der Geist von Plinius fällt in die erste Kategorie, bekannt als “Lemure”. Diese wütenden Geister verfolgten und belasteten die Lebenden, wurden aber dennoch mit einer Reihe von jährlichen Festtagen geehrt. Im Gegensatz zu den “Lemuren” standen die “Manen”, Geister, die ihre nahen lebenden Verwandten führten und beschützten. Die oft als “Götter” bezeichneten Manen wurden mit dem “Parentelia”-Fest gefeiert und galten als in oder unter der Erde existierend. Um den “Manen” zu gefallen, brachten die Römer Opfer dar und ließen oft Speis und Trank an ihrem Grab zurück. Lukian von Samosata Der antike Satiriker Lukian von Samosata formulierte mit seinem Roman “Der Lügenfreund” den Unglauben an Geister. Lukian, geboren 120 n. Chr., war ein gelehrter Mann mit einem einzigartigen Sinn für Humor und nutzte seine akademischen Fähigkeiten, um seine Zeitgenossen zu verspotten. In diesem Roman zieht er von der Warte des gesunden Menschenverstandes und der Logik alle Register, um all jenen eins auszuwischen, die auch nur im entferntesten an das Übernatürliche glauben. In seiner Geschichte erzählt Lukian von einer Figur namens Demokrit, die in einem Grab vor den Stadttoren haust, nur um zu beweisen, dass Friedhöfe nicht von Geistern heimgesucht werden. Er berichtet, dass junge Einheimische versuchten, Demokrit zu erschrecken, indem sie sich in schwarze Roben und Totenkopfmasken kleideten, aber trotz dieser effektiven Witze weigerte er sich, an das Übernatürliche zu glauben. Auch wenn Lukian ein entschiedener Ungläubiger gewesen sein mag, ist es interessant, auf seine klassische Idee des Aussehens eines Geistes hinzuweisen, die bis heute Bestand hat. Berühmte Geister in der Literatur Ob er nun an Geister glaubte oder nicht, William Shakespeare war furchtlos in seinem Streben, sie zu einem integralen Bestandteil seiner Stücke zu machen. Während er sicherlich nicht der einzige Dramatiker war, der Geister in seinen Aufführungen zeigte, unterscheiden sich Shakespeares Geister in der Bedeutung ihrer Interaktion mit den Lebenden. Das früheste Shakespeare-Drama, das Geister vorstellt, ist Richard III., in dem der gleichnamige Charakter von den Geistern seiner Opfer heimgesucht wird. Diese Geister verspotten Richard mit den Geschichten über ihr Ableben und sagen voraus, dass er in seinem nächsten Kampf eine Niederlage erleiden wird. Es scheint dem Publikum so, als ob die Geister Richard in seinen Träumen erschienen sind, was die Beziehung zwischen Geistern und Alpträumen festigt. Wenn sie jedoch auf der Bühne aufgeführt werden, sind die Geister physisch präsent, besetzt mit Schauspielern, die sich an die klassische Geisterdarstellung halten; aufgehellte Haut und ein “untotes” Aussehen. Shakespeares Behandlung der Geister wurde als zentrales Werkzeug zum Erzählen von Geschichten verwendet, wie in seinem berühmten Stück Macbeth gezeigt. Auf völlig unkonventionelle Weise erscheint der Geist von Banquo nur Macbeth und ist für alle anderen Gäste unsichtbar. Shakespeare nutzt den Geist, um zu vermitteln, dass die Last von Banquos Mord allein bei Macbeth liegt. Hamlet, geschrieben zwischen 1599 und 1602, ist eine der berühmtesten Geistergeschichten der Literatur. Das Stück, das sich um Hamlets Wunsch dreht, Gerechtigkeit für den Mord an seinem Vater zu suchen, gilt als eines der mächtigsten literarischen Werke aller Zeiten. Wesentlich für die Handlung ist der Geist von Hamlets verstorbenem Vater. In den Bühnenanweisungen als “Geist” bezeichnet, erscheint der Geist nur dreimal im Stück und wirkt als Impulsgeber der Handlungen Prinz Hamlets. Shakespeares Darstellung des Geistes steht im Einklang mit alten Geistergeschichten, wo sie stets ein ungelöstes Verbrechen oder Ungerechtigkeit symbolisiert und vermittelt. Der Geist sucht Rache, um aus dem Fegefeuer befreit zu werden. Es sei darauf hingewiesen, dass es unter Akademikern und Dramatikern viele Diskussionen darüber gibt, ob der Geist wirklich eine Darstellung des verstorbenen Königs ist oder tatsächlich eine phantastische Erfindung des jungen Hamlet, aber Shakespeare hat im Grunde einfach wieder einmal das Konzept eines Geistes dazu genutzt, um eine ganze Erzählung voranzutreiben. Die Existenz des Geistes offenbart ebenso viel über das Innenleben der lebenden Charaktere wie über den verstorbenen König. Geister, die sich durch Shakespeares Jahre und darüber hinaus bewegen, begründen in der viktorianischen Zeit ihr eigens literarisches Genre. Charles Dickens Der Schriftsteller und Sozialkritiker Charles Dickens war sehr einflussreich, was die Etablierung der Beliebtheit der Geistergeschichte betrifft. Von David Copperfield bis Oliver Twist schuf er einige der berühmtesten fiktiven Figuren aller Zeiten. 1843 schrieb Charles Dickens mit “A Christmas Carol” die wohl berühmteste Geistergeschichte aller Zeiten, die die Wandlung von Ebeneezer Scrooge vom geizigen Geldgeber zu einem freundlichen und liebevollen Mann zum Inhalt hat. Die Geschichte wird in fünf Kapiteln, oder “Stäben” (Staves), wie Dickens sie nannte, erzählt. Er wird an Heiligabend von vier Geistern besucht, von denen jeder seine Wahrnehmung für die Welt um ihn herum öffnet. Zunächst wird er vom Geist seines ehemaligen Geschäftspartners Jacob Marley besucht. In schweren Ketten dargestellt und von Geldtruhen nach unten gezogen, versucht Marley Scrooge sein Schicksal zu zeigen, sollte er nicht seine gierigen und egoistischen Wege ändern. Ihm wird gesagt, dass er von drei Geistern (den Geistern der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht) besucht wird, denen er zuhören soll oder dazu verdammt sein wird, die Last von Ketten zu tragen, die noch schwerer sind als die von Marley. Wie Shakespeares Geist von Banquo erscheinen Dickens' Geister ausschließlich Scrooge allein, die Erscheinungen reichen von einem unheimlichen kindlichen Mann bis hin zum phantomartigen Geist der zukünftigen Weihnacht. Charles Dickens selbst hatte ein persönliches Interesse an Geistern, wobei sein Freund und Biograph John Forster bemerkte, dass er leicht ganz vom Übernatürlichen hätte verzehrt werden können, wenn er nicht durch seinen eigenen gesunden Menschenverstand eingeschränkt worden wäre. Dickens erinnerte sich, dass ihm von seinem Kindermädchen Miss Mercy vor dem Schlafengehen als Kind schreckliche Geistergeschichten erzählt wurden. Als Teenager verschlang er Geistergeschichten und genoss es, sich bis ins Mark zu erschrecken. Als er ins Erwachsenenalter eintrat, wurde Dickens demgegenüber eher skeptisch, aber seine Fantasie wurde durch die Faszination für Geister in seiner Kindheit angeheizt. Die Erzählung “A Chrismas Carol”, die sich an nur einem Abend innerhalb einer einfachen und logisch gestrickten Struktur abspielt, veranschaulicht, dass Geistergeschichten am besten innerhalb einer Kurzgeschichte oder im Novellenformat funktionieren, auch heute noch. Kurze und prägnante Geschichten wie diese können leicht mündlich erzählt werden, wie viele andere der besten Geistergeschichten auch. So kommen wir zum Ende eines knappen Blicks auf die Ursprünge der Geister. Eine faszinierende Studie, die einen interessanten Punkt aufwirft, indem sie uns mehr über das Leben und Denken der Lebenden erzählt als über die Toten.
  • 36. Review: Elizabeth Kostova - Der Historiker | #36

    06:55
    Elizabeth Kostova bietet in ihrem Debüt eine kultivierte und denkwürdige Suche nach dem Grab Draculas. Längst schon ein moderner Klassiker, der moderne Schauerliteratur definiert. Weiterführend in den Tausend Fiktionen: Die Anfänge der Schauerliteratur Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Long Note Four by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/3991-long-note-fourLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Dracula Der in Schäßburg (wo man heute noch sein Geburtshaus besichtigen kann) geborene Vlad Tepes war bereits zu seinen Lebzeiten eine Legende. Über seine Grausamkeiten kursieren im Westen die unterschiedlichsten Geschichten (während im Osten ganz andere Variationen kursieren), und nicht zuletzt lieferte er einen Teil der Blaupause zu Bram Stokers “Dracula”. Aufzeichnungen vermuten sein erstes Grab in der Kirche des Klosters einer Insel im Snagov-See. Als man es öffnete, fand man es allerdings leer. Das passt als Grundlage für den Vampirmythos recht gut ins Bild, denn wenn er nicht in seinem Grab liegt, könnte das durchaus bedeuten, dass er noch lebt. In Elizabeth Kostovas vielgerühmten Roman tut er das tatsächlich. Wenn jemand in der heutigen Zeit zehn Jahre an einem Roman über Dracula schreibt, kann das nur bedeuten, dass sich da jemand in etwas verliert, dem man kaum mehr etwas Neues abgewinnen kann. Zumindest muss das von außen so aussehen. Wir reden hier nicht über einen fast schon alltäglich gewordenen Fantasy-Zyklus über Vampire, sondern über ein ambitioniertes Werk, das seinen Namen “Der Historiker” nicht umsonst trägt. Genau aus diesem Grund musste Kostova so lange recherchieren und schreiben. Das Ergebnis ist erstaunlich und weit entfernt von Teenager-Romanzen und bissigen Horror-Tropen. Wenn auf dem Umschlag zu lesen ist: Der Roman gibt einen vielschichtigen Einblick in 500 Jahre südosteuropäische Geschichte, dann ist das keineswegs gelogen. Kostova geht als Romanautorin exakt so vor, wie ein Historiker das tun würde. Natürlich schlüpft sie dabei in die Rolle ihrer 16-Jährigen Protagonistin, die namenlos bleibt (bis auf einen einzigen Hinweis, der leicht zu überlesen ist), und selbst Historikerin, aber auch Tochter eines Historikers und einer Anthropologin ist. Während wir in diese ungeheuerliche Geschichte eintauchen, sind wir viel auf Reisen, während ihr Paul (ihr Vater) von der Erkenntnis seines unheilvollen Erbes erzählt, immer in Sorge, die Tochter könnte ebenfalls darin verwickelt werden, was sie längst schon ist. Diese Reiseberichte sind enzyklopädisch. Kostovas Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten, Geräusche, der eigentümlichen Gerüche und der einzigartigen Köstlichkeiten sind derart stark, dass sie durchaus auch abschreckend wirken können. Allerdings wäre die dunkle, unheimliche Atmosphäre ohne diese Zutaten vielleicht zeitgemäßer, aber weniger erstaunlich. Während dieser Reisen schlägt wieder und wieder die Dunkelheit zu, und zwar in einer Art und Weise, die viel erschreckender ist als die meisten plakativ zur Schau gestellten Entwürfe einschlägiger Schriftsteller des Genres. Vater und Tochter Es ist wohltuend, ein Buch über kultivierte Menschen zu lesen. Das schwingt in diesem Buch nicht aufgesetzt und beiläufig mit, es ist sozusagen das Fleisch all dieser Einblicke. Das mag manchen Lesern zu langatmig vorkommen – tatsächlich las ich davon, dass die Autorin durch ihr akribisch ausformuliertes Setting etwaige Spannungsbögen zunichte mache – jedoch ist Spannungsliteratur (ohnehin ein unschönes Wort) hier nicht das Prädikat. Es geht vielmehr um das Interessante, aus dem der Effekt entstehen kann, und dazu braucht es Tiefe, die ein Spannungsroman nun einmal nicht hat. Offenbarungen und Enthüllungen gibt es reichlich in diesem Roman, der eben nicht nur tief, sondern auch breit angelegt ist. Statt Aktion gibt es hier Aktivitäten, und auch wenn es Vampire gibt, so sind sie alles anderes als Pulp-Gestalten, sondern so glaubhaft eingebettet, dass zwischen der faktischen Historie, die ohnehin sehr interessant ist, und dem Mythos kein Unterschied mehr besteht, was zeigt, dass es immer noch vom Talent des Autors abhängt, wie eine Geschichte wahrgenommen werden kann. Die verschiedenen Einzelinstanzen sind eine Reminiszenz an Bram Stokers “Dracula”, der ja auch mehrere Stimmen vereint, um die Geschichte vorzutragen. Es sind hauptsächlich Briefe und Dokumente, durch die sich die Erzählung entblättert, und es gibt Rückblicke, die der Vater seiner Tochter nach und nach enthüllt und die sein Leben als jungen Historiker beleuchten, der ein normales akademisches Leben führte, bis sein Professor und Mentor Rossi eines Tages spurlos verschwindet, was ihn auf eine epische Suche führt – der Suche nach Dracula. Die Autorin sagte über ihr Buch, sie habe gerade Mal eine Tasse Blut vergossen; dafür aber zeigt sie die Stärke der Stille exakt auf. Die Gespräche scheinen mehr geflüstert als gesprochen zu werden, in denen es dann aber zu großen Erkenntnissen kommt. Überall scheinen schattenhafte Gestalten zu lauern, und niemand will belauscht werden. Ein Teil der Handlung findet hinter dem Eisernen Vorhang statt, und diese ist gespickt mit einer gewissen Paranoia, die zu der des grundsätzlichen Rätsels – nämlich wo sich das Grab von Vlad, dem Pfähler befindet – hinzu kommt. “Der Historiker” ist eine große Liebesgeschichte, eine Geschichte über eine Vater-Tochter-Beziehung, eine wunderbare Erzählung über die Geschichte selbst und exotische Orte in Europa, eine saubere Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart im Dracula-Mythos. Als scholastisches Rätsel findet ein Großteil der Handlung in Bibliotheken, Archiven und Privatstuben statt. Von Elizabeth Kostova gibt es gegenwärtig drei weitere Romane, von dem der letzte – The Shadow Land” von 2017 noch nicht in deutsch vorliegt. Zum Thema hat dieser das Thema der Schauerromantik, enthält aber auch eine Detektivgeschichte. Das bedeutet im Augenblick natürlich nur Gutes für Leser, die sich englische Bücher vornehmen.
  • 35. Tausend Fiktionen: Die verspätete Nullnummer | #35

    08:42
    Michael Perkampus (Host, Editor) Albera Anders (Fragen) Hallo, Freunde, draußen an den Radiogeräten. Mein Name ist Michael Perkampus und ich führe euch in Tausend Fiktionen durch dieses Programm. Durch welches Programm? Nun, das versuche ich euch kurz in dieser verspäteten Nullnummer darzulegen. Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Die Tausend Fiktionen Lange Zeit war gar nicht klar, ob die Tausend Fiktionen bestand haben würden, ob Zeit und Enthusiasmus genügen, um ein langfristiges Angebot realisieren zu können. Oft genug scheiterte ich auch an der Technik selbst, denn es will doch so einiges bedacht werden, was zu Beginn noch gar nicht offensichtlich ist – und mir vielleicht auch heute noch nicht einleuchtet. Was als Zusatzprogramm zu den Artikeln im Phantastikon einst ausprobiert werden sollte, hat sich nun verselbständigt und zu meiner Überraschung wird der Podcast gut angenommen. Da ich das alles nicht geplant hatte, fielen die ganzen notwendigen Änderungen an, als viele Episoden schon längst öffentlich waren, und das ein oder andere gilt es noch immer zu verbessern. Aber im Wesentlichen bleibt die Sendung jetzt so. Es ist also an der Zeit, eine kleine Nullnummer auf den Weg zu bringen, typischerweise verspätet. Aber was hat Zeit schon für eine Bedeutung? Wie manche von euch wissen, ist es gar nicht so leicht zu durchschauen, was ich eigentlich mache. Bin ich jetzt Schriftsteller oder jemand, der über Literatur spricht? Man ist natürlich oft beides, aber in der öffentlichen Wahrnehmung hat es sich so eingebürgert, dass man entweder auf der einen oder auf der anderen Seite steht. In diesem Podcast steht das Relevante vor dem Aktuellen, obwohl es natürlich immer mal wieder aktuelle Bücher gibt, über die ich hier sprechen werde. Hauptsächlich aber beschäftige ich mich mit Autoren und Zusammenhängen, die man leicht übersieht, weil wir doch heute sehr auf Genres fixiert sind. Natürlich trefft ihr hier das Phantastische in der Literatur an, das aber nach meinem Dafürhalten viel weitreichender ist, als man das allgemein annimmt. Historische Kriminalromane gehören ebenso dazu wie großartige Fantasy, vom Feuilleton geschmäht wie fast alles, was nicht zum Mainstream gehört. In den Tausend Fiktionen versuche ich, kurze Einblicke zu geben und es spiegelt natürlich meine subjektive Meinung wieder und betrifft – wen wundert es – das, was mich selbst an der Literatur interessiert und fasziniert. Der Podcast entstand ja auch deshalb aus dem ehemaligen Phantastikon heraus – also dem Magazin für Phantastik, das von 2014 bis 2019 mit über 100 Autoren im Netz zu finden war – weil ich den unterschiedlichen Artikeln einen Mehrwert mit auf den Weg geben wollte, und Geschriebenes allzu oft links liegen bleibt. Literaturpodcasts sind seltener als etwa Buchblogs oder auch Booktuber. Dort zählen die persönlichen Belange viel mehr als die eigentliche Information, die dann meistens über den Klappentext nicht hinaus kommt. Ohne Frage sind die Tausend Fiktionen ein besonderer Literaturpodcast. Entertainment steht hier nicht an oberster Stelle, aber natürlich sollen die Inhalte interessant – und vor allem zeitlos sein. Denn eines ist gewiss: die ewige Jagd nach dem Neuen bedeutet in aller Regel, dass man sich der Jagd nach dem Belanglosen anschließt und das Bedeutsame auf der Strecke bleibt, weil morgen schon wieder ein anderer Tag mit anderen Veröffentlichungen ansteht. Tatsächlich kommen mit jedem neuen Jahr immer mehr Bücher heraus als im vorigen. Diese Schwemme bedeutet aber keineswegs, dass auch mehr gute Bücher erscheinen. Ganz im Gegenteil hat sich diese Zahl mit den Jahrzehnte kaum verändert. Man findet sie nur nicht mehr so leicht wie früher, weil der Morast immer tiefer wird und weil viele davon nur noch antiquarisch zu ermitteln sind. Das hindert mich allerdings nicht im Geringsten daran, sie zu preisen als wären sie jetzt erst erschienen. Oder, wie Arno Schmid sich einst ausdrückte: Sobald ein neues Buch erscheint, lies du ein altes. Neben Buchbesprechungen gibt es auch die Rubrik der Helden, Versager und anderer Ikonen – ein Überblick über die bekanntesten fiktiven Figuren der westlichen Welt. Ein Unternehmen, das allein schon erschöpfend wäre. Aber ich versuche auch, die Rechte für ausgewählte Geschichten zu bekommen, die ich als Hörbuch anbiete. Und wer weiß, was sich noch alles machen lässt. Natürlich lebt nicht nur ein Blog, sondern auch ein Podcast von Interaktion. Fühlt euch also so frei und teilt mir mit, wie ihr die einzelnen Themen seht. Das könnt ihr natürlich auch auf den unterschiedlichsten Plattformen tun. Die Tausend Fiktionen sind auf verschiedenen Verteilern vertreten. Eine stets aktuelle Liste findet ihr auf der Hauptseite phantastikon.de, wo ihr auch die Transkripte zu den Sendungen nachlesen könnt. Zum Schluss bleibt mir noch, ein paar grundlegende Fragen zu beantworten, die teilweise von dem Literaturkritiker Stefan Mesch stammen. Entworfen wurden sie für Buchblogger, aber einige von ihnen lassen sich auch auf andere Medien übertragen. AA: Was war das Lieblingsbuch deiner Mutter? MEP: Da ich meine Mutter nur acht Jahre lang kennen lernen durfte, ist das keine Frage, die ich wirklich beantworten kann. Da sie Lyrikerin war, gehe ich aber davon aus, dass es irgendein Gedichtband gewesen sein könnte. Möglicherweise Eichendorff oder sogar Goethe. AA: Was war das Lieblingsbuch deines Vaters? MEP: Mein Vater war ein Jerry Cotton-Leser, also das genaue Gegenteil von allem, was sich in unserem literarischen Haushalt, inklusive dem meines Großvaters so abspielte. Er wollte vor allem schnell durch die Lektüre kommen, ansonsten habe ich ihn nie mit einem Buch gesehen. AA: Warum betreibst du überhaupt einen Literaturpodcast? MEP: Die Tausend Fiktionen waren im Grunde ein Zusatzangebot zu einigen Artikeln, die es im alten Phantastikon zu lesen gab. Aber die Leute lesen natürlich kaum Artikel im Netz, die sich um Literatur drehen, außer natürlich jene, die von Freunden geschrieben wurden und sich durch eine einfache, naiven Sicht hervortun. Ich bin für den Mainstream zu komplex, also habe ich das Phantastikon eingestellt, obwohl ich mich natürlich weiter mit Literatur beschäftige. Da kam mir die Idee, ein spezifischeres Publikum zu suchen. Literatur und Radio gingen ja schon immer gut zusammen, und ich bin der Meinung, dass jene, die sich für ein bisschen Tiefe interessieren, auch gute Zuhörer sind. AA: Was machen die Tausend Fiktionen anders als andere Podcasts? MEP: Es gibt nicht so viele Literaturpodcasts. Daher ist es nicht besonders schwer, nahezu alles anders zu machen. Bei vielen steht das Entertainment an erster Stelle, was natürlich kein Fehler ist, aber man hört schon gleich, dass in den Tauend Fiktionen der Fokus ganz wo anders liegt. Und das ist ja erst der Anfang. Da gibt es noch einiges zu verbessern und auszuprobieren. AA: Wahr oder falsch: „Ich podcaste vor allem, weil ich mich über Bücher austauschen will und im persönlichen Umfeld nicht genug Menschen habe, mit denen ich das könnte.“ MEP: Es ist ein Irrglaube, dass man sich im Netz über Bücher austauschen könnte, zumindest so, wie ich mir das wünschen würde. Aber im privaten Umfeld ist es wahrscheinlich noch schlimmer. Ich podcaste vor allem, weil ich jenen, die es interessiert, einiges zu geben habe, was sie sonst nirgendwo bekommen. Das sind wenige, aber die gibt es. AA: Was ist dein persönlicher Geschmack und was sind deine Prinzipien beim Lesen und bewerten? MEP: Ein Buch führt zum nächsten Buch. Das ist eigentlich das einzige Prinzip, das ich habe. Gegenwartsliteratur interessiert mich zum Beispiel überhaupt nicht, vor allem nicht von deutschen Autoren. Im Bereich der Phantastik haben wir aber mittlerweile ebenfalls eine Handvoll, die international mithalten kann. Im Grunde verweigere ich mich der Zeitlinie und Aktualität, dem ganzen Modekram. Ein Bewertungssystem habe ich nicht. Man merkt sehr schnell, was ich von einem Buch halte, wenn man ein wenig Aufmerksam zuhört. AA: Wer hört dich? Hast du eine Zielgruppe? MEP: Der Podcast ist noch zu frisch, um sagen zu können, wer da zuhört. Dass es da aber bereits einen festen kleinen Stamm gibt, sehe ich ja an den Statistiken der Downloads, wobei die Dunkelziffer der Zuhörerschaft noch weitaus höher sein dürfte. Für große Podcasts wahrscheinlich lächerlich, aber eine große Community würde mich ohnehin skeptisch machen. Bei Youtube ist ja alles darauf angelegt, beim Podcasten funktioniert das alles etwas anders. AA: Werden dir von Verlagen Bücher angeboten? MEP: Im Phantastikon war das so und anfangs habe ich auch Exemplare angefordert, aber irgendwann habe ich das sein lassen. Es ist ziemlich klar, dass die Verlage die kleinen Dummerchen auf den Buchblogs oder Booktuber relativ günstig damit abspeisen, dass sie ihre Begeisterung zeigen. Denen geht es nicht um ehrliche Auseinandersetzung. Und ein Marketingtool bin ich ja nun wirklich nicht. Ich kann mir meinen Kram schon selber kaufen. Das wars von mir, ich hoffe, wir hören voneinander.
  • 34. Review: Stephen King - Blutige Nachrichten | #34

    10:35
    Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Tranquility Base by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/4542-tranquility-baseLicense: https://filmmusic.io/standard-license EC-ComicsBlutige Nachrichten bei Random House Transkription Perfektion der Prosa Stephen King – Blutige Nachrichten / Random House Es kam in den letzten Jahren immer wieder vor, dass vor allem jene Fans, die King wegen seiner Horror-Element lieben, enttäuscht waren von dem, was er ihnen zu bieten hatte; nicht weniger als eine Perfektion seiner Prosa und eine meisterliche Beherrschtheit seiner Themen, die sich hauptsächlich um Sterblichkeit und Freundschaft drehen (während ein noch größeres Thema die Opferbereitschaft war und ist). Obwohl King schon immer ein außergewöhnlicher Autor war, legt er mittlerweile eine Perfektion an den Tag, die aus schierer Erfahrung resultiert. Stephen King beherrscht als Schriftsteller alles. Seine Romane können ausufern und mäandern, sie können kontrolliert sein, erschreckend, phantastisch, ungehobelt und fein gesponnen. Und wenige Romanciers beherrschen zudem noch die kurze Form, oder die Novelle. Nimmt man es genau, ist in “Blutige Nachrichten” vom titelgebenden Kurzroman über die längere Erzählung bis zur Kurzgeschichte alles vertreten, und es ist nach Frühling, Sommer, Herbst und Tod und Four Past Midnight (Langoliers / Nachts) die dritte Sammlung, in der vier Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind. Warum also sollten viele Fans davon enttäuscht sein? Weil sie oft genug vergessen, dass Kings Werk vermuten lässt, dass Freundlichkeit oder eine kurze Phase der Zufriedenheit an den schrecklichsten Orten zu finden ist. Viele seiner Erzählungen, gerade der älteren, sind schwarz bis auf die Knochen, oft gab es dort keine Illusion der Hoffnung, aber meistens interessiert sich King dann doch für die Warmherzigkeit und das Mitgefühl, die der Dunkelheit am Rande der Grauzone trotzen. Sein Werk hat einen sowohl warmen Charakter als auch eine beruhigende Vertrautheit, die das Grauen im Innern mildert. Und das hat sich über die Jahre nicht unbedingt verstärkt, aber noch präziser herauskristallisiert. Jede der in “Blutige Nachrichten” versammelten Geschichten ist für King-Leser eine Rückkehr auf bekanntes Gebiet, aber zum größten Teil sind sie mit einem solchen Charme geschrieben, dass das Altbekannte in seiner Aufrichtigkeit erfrischend wirkt. Und in der Tat ist Aufrichtigkeit ein Schlüsselelement dieser Geschichten. Blutige Nachrichten Die Titelgeschichte, in der Holly Gibney, die Privatdetektivin, die sich in der Bill-Hodges-Trilogie und in The Outsider vom einer Handlangerin zur Heldin entwickelt hat, erneut auftritt, ist die längste Geschichte der Sammlung. Das erste Soloabenteuer von Holly wurde aus verschiedenen Gründen mit Spannung erwartet. Dabei handelt es sich zwar nicht um eine direkte Fortsetzung von The Outsider, die geschilderten Ereignisse knüpfen jedoch direkt daran an. Hollys Detektei Finders Keepers konzentriert sich gewöhnlich auf entlaufene Hunde und Kautionsflüchtlinge, und das ist für Holly genau das richtige Umfeld, denn sie ist alles andere als eine Action-Heldin. Ihre Schrullen sind es, die sie zu einer so brillanten Figur machen, sensibel gezeichnet und realistisch durchdacht. Wie ihre Diagnose genau lautet, wissen wir nicht, nur so viel, dass sie höchst ängstlich ist. Mehr müssen wir aber auch nicht wissen, denn tatsächlich laufen die meisten Menschen, die an einer psychischen Grunderkrankung leiden, jahrelang undiagnostiziert durchs Leben, und wenn, sind die Diagnosen meistens falsch. Häufig gehen die Neurosen oder Kämpfe der Menschen auf Ereignisse in ihrer Kindheit und auf die Beziehungen zu ihren Eltern zurück. King zeigt, dass er wie kein anderer weiß, was seine Aufgabe als Schriftsteller ist. Wir erhalten Einblicke in Hollys frühere Welt und erfahren mehr über die Beziehung zwischen ihr und ihrer Mutter, die ein Haupteinfluss für Hollys Problematiken ist. Die Figurenzeichnung ist präzise und emotional, und das ist ein Hauptmerkmal der ganzen Erzählung, die in der Tat kein Feuerwerk ist, sondern eher eine Vitrine, in der man einem Großmeister bei seiner Arbeit zusehen kann. King beherrscht Komplexität gekonnt. Holly mag als eine verletzliche Figur erscheinen, als wäre sie aus Glas, aber die Tapferkeit und der Mut, den er ihr zugesteht, sind das, was die Dinge wirklich antreiben. Man will ihr die Hand reichen und sie beschützen, sie abschirmen; aber King schreit den Leser an: “Wagen Sie es nicht, sie ist die Heldin und beschützt Sie vor den Monstern”. Herauszufinden, ob es ihr gelingt, ist die ganze Freude bei der Lektüre dieser Geschichte. Mr. Harrigans Telefon “Mr. Harrigans Telefon” verdankt den EC-Comics und den Twilight-Zone-Episoden, die der Autor immer wieder als seine frühen Inspirationen bezeichnet hat, offensichtlich sehr viel. Und wieder zeigt King, dass er auch Figuren in der ersten Person brillant zeichnen kann. Manchmal ist es so, als würde man einer Autobiographie folgen, so gut kennt er seine Charaktere, die man – und das wiederhole ich immer wieder – nirgendwo authentischer finden wird. Es ist nicht die einzige Geschichte mit einem gewissen Maß an Nostalgie (die nächste ist es nicht weniger), wenn der Meta-Kommentar darin enthalten ist, wie schnell sich die Dinge innerhalb von 15 Jahren verändert und entwickelt haben. Die Hauptfigur, Craig, erzählt die Geschichte als Erwachsener. Die Wahl, die Geschichte in der jüngsten Vergangenheit anzusiedeln, zeigt, wie ernst King jeden Teil seines Handwerks nimmt. Wir denken, dass wir uns an ein, zwei Jahrzehnte spielend erinnern können, aber wenn es darum geht, die Tatsachen zu überprüfen, würden wir uns wahrscheinlich schwer tun. King bleibt relevant, weil er ein geschärftes Auge auf die Dinge wirft; diese Erzählung zeigt, dass er nicht so sehr ein Satiriker ist (für ihn steht die Geschichte immer an erster Stelle), sondern ein Mensch, der genug Veränderungen erlebt hat, um uns davon zu erzählen. Die Geschichte spielt in den frühen Jahren der mobilen Technik, hat aber eine so zeitlose Stimme, dass das mobile Telefon bereits ein unheimliches, anachronistisches Objekt zu sein scheint, noch bevor der überkandidelte Blödsinn, den wir heute haben, einsetzt. Chucks Leben Wenn “Mr. Harrigans Telefon” an Kings frühe Romanen erinnert, dann ist “Chucks Leben” eine angemessene Darstellung seiner späteren literarischen Experimente. Die Geschichte wird in drei verschiedenen Teilen erzählt, von denen jeder in einem anderen Genre angesiedelt ist, durch die King den Leser auf eine umgekehrte Tour durch Momente in Chucks Leben von der Schwelle zur Sterblichkeit zurück in seine Kindheit führt. Der erste Teil ist ein apokalyptischer Alptraum, der durch einen netten metaphysischen Trick mit Chucks bevorstehendem Tod verbunden ist, während der letzte Teil einen Blick auf seine Kindheit in einem einzigartigen Spukhaus wirft. Aber es ist der Mittelteil, der am hellsten strahlt, als ein Stück emotional getriebener, nostalgischer Charakterarbeit, die Art von Schreiben, die King am häufigsten dann gelingt, wenn er gerade außerhalb des Horror-Genres arbeitet. Hier begegnen wir Chuck im frühen mittleren Alter, als sich sein Weg mit einer einsamen jungen Frau und einem Straßenmusiker kreuzt. Ihre kurze Begegnung ist nicht lebensverändernd oder gar besonders bedeutsam, aber es ist die Vergänglichkeit des Augenblicks, die der Vignette eine solche Schärfe verleiht. Die Regeln von Chucks Welt sind vorübergehend außer Kraft gesetzt, und die Geschichte bietet einen vorbehaltlos positiven Moment des menschlichen Engagements. King ist in der Lage, aus so kleinen Begebenheiten Freude zu zaubern, dass sich der Leser fragt, wie der Trick zustande kam. Ratte Und wenn das Schreiben eine Art Magie oder seltsame Alchemie ist, dann erforscht die letzte Geschichte in Kings Sammlung sowohl die hellen als auch die dunklen Hälften dieser Verzauberung. Die titelgebende Ratte sieht die Version des treuen (und wiederkehrenden) fiktiven Stellvertreter des Autors in einer Hütte im Wald für kurze Zeit sein Domizil errichten. Drew ist dort, um einen Roman zu schreiben, etwas, das ein erhebliches Risiko birgt, da frühere Versuche ihn fast in den Wahnsinn getrieben haben. Während anfangs alles gut läuft, ziehen bald (sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne) Gewitterwolken auf. Ein unkluger Handschlag und die Anwesenheit einer seltsam gesprächigen Ratte verwandeln die Geschichte von der Angst eines Schriftstellers in ein faustisches Schnäppchen. “Ratte” ist Kings bester Versuch, den Druck und die Klaustrophobie des Schreibprozesses seit Misery (Sie) zu vermitteln. Wir spüren Drews Aufregung über das leere Blatt und die endlosen Möglichkeiten, die es bietet. Es ist eine Aufforderung zu den (kreativen) Waffen. Die ersten 30 Seiten lassen vielleicht Sehnsucht nach einer eigenen Hütte im Wald aufkommen, um frei von den Verpflichtungen eines normalen Lebens zu sein. King schreibt mit absoluter Klarheit über die schriftstellerische Frustration und vergleicht sie in einem denkwürdigen Bild mit Drews Sohn Brandon, der fast an einer Tomate erstickt: “So ähnlich ist es bei mir”, sagte er. “Nur dass es bei mir im Hirn steckt statt im Hals. Ich ersticke zwar nicht richtig, aber ich bekomme nicht genügend Luft. Deshalb muss ich das Ganze zu Ende bringen.” Als Drew anfängt, “seine Worte zu verlieren”, und seine Möglichkeiten sowohl kreativ als auch in Bezug auf das Überleben eingeschränkt werden, verwandelt sich “Ratte” in eine poetische Geschichte von Wahnsinn, Isolation und Besessenheit. Jeder, der jemals all seine Bemühungen in ein persönliches, kreatives Projekt gesteckt hat, wird Drews Perspektivenverlust erkennen, sobald der Roman damit beginnt, allumfassend zu werden.
  • 33. Alfred E. Neumann (Das rätselhafte Mondgesicht) | #33

    10:15
    Alfred E. Neumann ist eine der rätselhaftesten Figuren der gesamten Popkultur. Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Der Gründer des MAD-Magazins Harvey Kurtzman erinnerte sich in einem Interview an die Illustration eines grinsenden Jungen, den er Anfang der fünfziger Jahre auf einer Postkarte entdeckt hatte: “Das Portrait eines Kürbisgesichts. Sein Blick teilweise der eines Besserwissers, teilweise der eines glücklichen Kindes. Darunter stand: “What, Me Worry?”. (Was, ich und besorgt?; eingedeutscht: “Na und?”) Mad Magazine N. 30 von 1956 In die Ecken der frühen Ausgaben von MAD setzte Kurtzman das Na-und–Gesicht als visuelles Miniaturmotiv ein, das am Rande der dicht gepackten Schwarz-Weiß-Seiten der Publikation auftauchen würde. Als Al Feldstein 1956 die redaktionelle Kontrolle von Kurtzman übernahm, machte er den Jungen zum neuen Aushängeschild der Vollfarbzeitschrift. Maskottchen waren inzwischen zu einem Prestigepunkt geworden: Der Playboy hatte sein Häschen, Esquire hatte den großäugigen Mr. Esky. “Ich entschied mich, dass ich dieses visuelle Logo als Aushängeschild von MAD haben wollte, so wie Unternehmen den Jolly Green Giant und den Hund, der für RCA ins Grammophon bellt”, sagte Feldstein 2007. Feldstein gab das erste Titelbild bei Norman Mingo in Auftrag. Als sechzigjähriger Veteran der kommerziellen Illustration war Mingo auf Pin-ups im Vargas-Stil und rockwelleske Darstellungen der amerikanischen Mittelklasse-Kultur spezialisiert. Er befand sich kurz vor dem Ruhestand, als er auf die Anzeige der New York Times reagierte, die ILLUSTRATOR WANTED lautet. Er schreckte zunächst zurück, als er zum ersten Mal den Hauptsitz des Magazins in 485 “MADison Avenue” besuchte, aber sein üppiger Stil passte perfekt zu der aufkeimenden Publikation, und er brauchte die Arbeit. Beginnend mit dem Neumann-Auftrag malte er in den nächsten zwanzig Jahren die meisten Cover von MAD. Feldstein sagte Mingo, dass er nicht wollte, dass der Junge “wie ein Idiot aussieht – ich will, dass er liebenswert ist und eine Intelligenz hinter seinen Augen leuchtet. Aber ich will, dass er diese zum-Teufel-Einstellung hat, dass er jemand ist, der seinen Sinn für Humor bewahrt, selbst wenn die Welt um ihn herum zusammenbricht.” Der Antikamnia-Kalender von 1905 (via madtrash.com) In Completely Mad, einer umfassenden Geschichte der Zeitschrift von 1992, berichtete die Schriftstellerin und Forscherin Maria Reidelbach von einer Anzeige für Atmores Hackfleisch und echtem englischen Pflaumenpudding, die sie gefunden hatte, von einem sehr frühen Neumann, der dadurch bis 1895 zurückverfolgt werden konnte. “Die Gesichtszüge des Kindes sind ausgereift und unverwechselbar”, schrieb Reidelbach, “und das Bild wurde sehr wahrscheinlich von einem noch älteren Archetypus aufgenommen, der noch nicht gefunden wurde.” Peter Reitan glaubt nicht an unauffindbaren Archetypen. Reitan ist Patentanwalt mit Sitz in Irvine, Kalifornien, und widmet seine Freizeit der Erforschung arkaner Fäden der Popkultur. Unter dem Pseudonym Peter Jensen Brown sammelt er seine Arbeiten in einer Reihe von persönlichen Blogs. Ende 2012 durchsuchte Reitan die Online-Zeitungsdatenbank Chronicling America nach Informationen über die Cuban Giants, dem ersten afroamerikanischen Profi-Baseballclub. (Frühe Sportgeschichten sind eine weitere Spezialität von Reitan.) Beim Scannen einer Seite aus einem alten Los Angeles Herald bemerkte er, dass ihm ein vertrautes Gesicht aus einer Ecke angrinste. Das zottelige Haar, der fehlende Zahn – Neumann. Eine Bildunterschrift unter dem Gesicht lautet: “Was nützt irgendetwas? Nichts!” Es warb für ein Theaterstück namens The New Boy. Die Anzeige war vom 2. Dezember 1894. Reitan war als Junge ein MAD-Leser gewesen, wusste aber nichts von der anhaltenden Debatte über Neumanns Herkunft. “Das Bild zu finden, hat mich verwundert”, sagt er, “und dann, als ich nachsah, fand ich in einem Blog einen Eintrag, der zu Maria Reidelbachs Buch und der Pflaumenpuddinganzeige von Atmore führte … Da dachte ich, ich könnte da an etwas dran sein.” Brooklyn Daily Eagle, February 2, 1896. Wie Reitan betont, war die Werbung wahrscheinlich in jeder Stadt zu sehen gewesen, in der die Show während eines Zeitraums von fünf Jahren halt machte, was die Allgegenwart des Jungen erklärt. Bald wurde er für politische Karikaturen und für Werbung genommen, darunter die von Atmores Pflaumenpudding. Jedes neue Auftauchen lud eine weitere Welle von Nachahmern ein: Der Charakter spaltete und vermehrte sich, stärkte seine Potenz als Meme und verdunkelte jede bestimmte Herkunft.
  • 32. Arthur Conan Doyle - Spiritist und Gentleman | #32

    09:27
    Weiterführende Episoden: August Dupin vs. Sherlock HolmesEine kleine Geschichte des Kriminalromans Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Tranquility Base by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/4542-tranquility-baseLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Der vielseitige Schriftsteller Während der Schriftsteller und Arzt Sir Arthur Conan Doyle heute bei den meisten für seinen logisch denkenden Skeptiker Sherlock Holmes bekannt ist, wissen die Horrorbegeisterten aus aller Welt, dass er mit seiner bösartigen Mumie eine der besten Geistergeschichten der englischen Literatur verfasste und erkennen in ihm einen Vorfahren der Lovecraft unterstellten Weird Fiction. Tatsächlich ist Arthur Conan Doyle für die Mumie das, was Stoker für den Vampir ist, und seine Geschichten von spitzhackenschwingenden Serienmördern, gespenstischen Folterinstrumenten, Geistern am sonnenlosen Nordpol, verfluchten Werwölfen, gelatineartigen Monstern am Himmel über uns und verunglückten Séancen, sind genauso kühl vorgetragen wie die Holmes-Abenteuer spannend sind.  Der enorme Erfolg dieser Detektivgeschichten erlaubte es Arthur Conan Doyle, 1891 seine medizinische Praxis aufzugeben und sich dem Schreiben zu widmen. Sein Schaffen war breit gefächert: Theaterstücke, Verse, Memoiren, Artikel über Sport, Kurzgeschichten, historische Romane und schließlich Schauerromane und Schriften über Spiritualismus. Sein erfolgreichstes Werk blieb jedoch Holmes, sehr zu seiner späteren Frustration. Das Vorbild für Sherlock Holmes Es mag überraschen, dass der Schöpfer dieser beständigsten Ikone der englischen Literatur überhaupt nicht Engländer, sondern Schotte war. Arthur Conan Doyle wurde 1859 in Edinburgh geboren und als kleines Kind in ein katholisches Internat geschickt. Wie eine Reihe schottischer Jungen aus der Mittelschicht seiner Generation entschied er sich für ein Medizinstudium und trat 1876 in die Medizinische Fakultät von Edinburgh ein. Einer jener Professoren dort war ein Experte in medizinischer Diagnostik namens Joseph Bell, der die Inspiration für den Meisterdetektiv Holmes gewesen zu sein scheint. Bell behauptete nicht nur, die Krankheit eines Patienten aus wissenschaftlicher Beobachtung diagnostizieren zu können, sondern auch seinen Hintergrund und seine Arbeit daraus folgern zu können – er notierte sorgfältig solche Details wie den Gang eines Seemanns oder die schwieligen Hände eines Hausmädchens und benutzte sie, um ein Porträt dessen zu erstellen, was schließlich zu einer Erkrankung geführt hatte. Conan Doyles Autobiografie erinnert auch an den Einfluss seiner Mutter, die selbst eine talentierte und lebendige Geschichtenerzählerin war. Arthur Conan Doyles leidenschaftliche Bemühungen um das Irrationale sind in den Sherlock Holmes-Geschichten und Novellen nicht zu erkennen. Vielleicht sind diese Werke deshalb so beliebt im Gegensatz zu seiner Schauerliteratur, die vor Überzeugung und Rhetorik geradezu strotzt, denn trotz der dramatischen Inszenierung rationalistischer Geisteskraft, die seine Karriere bestimmen sollte, war der Autor ein abergläubischer Mensch, was Sherlock Holmes' Atheismus kaum vermuten lässt. Noch überraschender ist jedoch, dass er ein unverbesserlicher Imperialist mit einer hasserfüllten Besessenheit gegenüber Ägypten war, einem Land, das er 1893 nur einmal besuchte und in das er nie zurückkehrte. Dieser Mangel an direkter Erfahrung mit Ägypten oder seiner Kultur hat Doyle nie daran gehindert, eindringliche (und wie sich herausstellen sollte, einflussreiche) Meinungen über Relikte des alten Ägypten zum Besten zu geben, die in den späten 1800er Jahren dank der Effizienz und Anstrengung der englischen Archäologen immer häufiger ausgegraben wurden. Während Doyle 1896 schrieb, dass er die ägyptische Zivilisation selbst “verachtenswert” und “entmannt” fand, war er weiterhin begeistert von den Mumien, Pyramiden und Schriftrollen, die gefunden wurden, und nahm sie weiterhin als Requisiten in seine Geschichten auf. Conan Doyle und der Spiritismus Die Familie Doyle war streng katholisch. Arthur Conan Doyle wuchs zwar in einem streng katholischen Milieu auf, stellte dieses aber schnell in Frage, erklärte sich selbst zum Agnostiker und zeigte ein starkes Interesse am Spiritismus. 1881 besuchte er eine Vorlesung über dieses Thema und 1887 erschien ein Artikel von ihm in einer spiritistischen Zeitschrift, in dem er eine Séance beschrieb, an der er teilgenommen hatte, und 1889 versuchte Professor Milo de Meyer bei seiner Vorlesung über Mesmerismus, Doyle zu hypnotisieren, was ihm jedoch nicht gelang, und erst 1893 trat Conan Doyle der British Society for Psychical Research bei, die ihre Mitglieder aus den höchsten Kreisen der Politik und Wissenschaft rekrutierte. 1894 dann bat ein gewisser Colonel Elmore die Organisation, die mysteriösen Geräusche zu untersuchen, die ihm in seinem Haus in Dorset immer wieder den Nerv raubten. Sogar der Familienhund weigerte sich, bestimmte Teile des Hauses zu betreten, fast seine gesamte Dienerschaft hatte bereits gekündigt. Auch Elmores Frau und seine Tochter bestätigten, dass sich die Geräusche anhörten, als würden Ketten über den Holzboden geschleift, begleitet von einem Stöhnen. Conan Doyle, Dr. Sydney Scott und Frank Podmore wurden entsandt, um den möglichen Spuk zu untersuchen. Sie verbrachten mehrere Abende im Haus, doch ihre Ergebnisse waren nicht schlüssig. Eines Nachts wurden die Ermittler durch einen “furchterregenden Aufruhr” gestört, aber es konnte keine Ursache für den Lärm festgestellt werden. Conan Doyle verließ das Haus in Dorset im Unklaren darüber, ob es  dort wirklich spukt oder ob der Spuk nur ein Scherz war. Später wurde die Leiche eines etwa zehn Jahre alten Kindes entdeckt, das im Garten vergraben lag. Conan Doyle kam zu der Überzeugung, dass er tatsächlich Zeuge psychischer Phänomene geworden war, verursacht durch den Geist des toten Kindes. Erst im Oktober 1917 hielt Arthur Conan Doyle seinen ersten öffentlichen Vortrag über Spiritismus. Er wollte seine gemachten Erfahrungen zum Wohle der Menschheit anbieten. Obwohl er wusste, dass sein Ruf und seine Karriere darunter leiden könnten, wurde er ein unverblümter Befürworter der Bewegung. Er schrieb Bücher, Artikel und trat unzählige Male öffentlich auf, um für seine Überzeugungen zu werben. Seine unbekümmerte Art und sein absolutes Vertrauen in die Bewegung machten ihn zu einem wirksamen Redner. Er war so aufrichtig, dass sogar die Gegner des Spiritismus seinen Aktionen wohlwollend gegenüber standen. Ein Zitat zu dieser Zeit sagte folgendes über ihn aus:  “Armer, lieber, liebenswerter, leichtgläubiger Doyle! Er war ein Riese von Gestalt mit dem Herzen eines Kindes”. The Cottingley Fairies Aus der englischen Wikipedia Der bereits angeschlagene Ruf von Conan Doyle erreichte Ende 1920 einen neuen Tiefpunkt. In der Dezemberausgabe des Magazins The Strand erschien ein Artikel von Conan Doyle über einige außergewöhnliche Fotos. Zwei junge Damen aus dem Dorf Cottingley in der Grafschaft Yorkshire machten einige Aufnahmen von Feen, die sie in der Umgebung ihres Landhauses gesehen haben wollten. Arthur Conan Doyle erfuhr Anfang des Jahres von den Fotos und begann, die Angelegenheit zu untersuchen. Negative der Fotos wurden zur Prüfung an zwei Orte geschickt. Die Londoner Vertreter von Kodak erklärten, dass niemand diese Fotos manipuliert habe, dass aber die Herstellung solcher Effekte nicht besonders schwer sei und sie deshalb nicht für ihre Echtheit garantieren könnten. Von dem anderen Experten, der die Negative untersucht hatte, bekam Doyle jedoch einen positiven Bescheid. Harold Snelling erklärte die Fotos für echt, und so schloss sich Doyle dieser Meinung an. Diese Fotos wurden als The Cottingley Fairies bekannt. Vielleicht beeinflusst durch die Tatsache, dass sein eigener Sohn Kingsley 1918 bei der großen Epidemie der Spanischen Grippe erlag, investierte Doyle fiel Geld und Zeit in diese Dinge, die offensichtlich seinem Ruf schadeten. Nach dem Tod des Autors im Jahr 1930 füllte sich die Royal Albert Hall mit Fans, die an einer großen Séance zu seinen Ehren teilnahmen. Zu diesem Zeitpunkt war seine literarische Unsterblichkeit jedoch bereits gesichert: Laut dem Guinness-Buch der Rekorde ist Sherlock Holmes die meistdarsgetellte Film- und Fernsehfigur aller Zeiten.
  • 31. Eine kleine Geschichte des Kriminalromans | #31

    17:37
    Die Geschichte des Kriminalromans bietet eine schier unendliche Fülle von Entwicklungen. Wer sich verwundert fragt, warum etwa ein Sam Spade oder ein Philipp Marlowe (nur um einige zu nennen) hier nicht genannt werden, dem sei gesagt, dass es hier vor allem um die Entwicklung des Genres aus dem viktorianischen Zeitalter heraus geht. Wie in der Sendung erwähnt, wird sicher noch ergänzendes Material geliefert, natürlich immer vorausgesetzt, dass ein gewisses Interesse an der Materie besteht. Links: Dorothy L. SayersAgatha ChristieNewgate-KalenderWilkie Collins: Der Monddiamant Weiterführend auf Tausend Fiktionen: Auguste Dupin vs. Sherlock HolmesDie Anfänge der Schauerliteratur Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Lobby Time by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/3986-lobby-timeLicense: https://filmmusic.io/standard-license Spy Glass by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/4410-spy-glassLicense: https://filmmusic.io/standard-license Backbay Lounge by Kevin MacLeodLink: https://filmmusic.io/song/3408-backbay-loungeLicense: https://filmmusic.io/standard-license Air Of Mystery by chilledmusicLink: https://filmmusic.io/song/7119-air-of-mystery-License: https://filmmusic.io/standard-license Atmosphere Of Intrigue by Brian Holtz MusicLink: https://filmmusic.io/song/7084-atmosphere-of-intrigueLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Rätselgeschichte oder Kriminalroman? Genrebeschreibungen sind selten eine klare Sache, aber nur deshalb kann man überhaupt darüber diskutieren. Wäre immer alles klar und für jeden ersichtlich, würde ein Lexikoneintrag genügen und der Fall wäre abgehakt. Heute widmen wir uns dem wohl beliebtesten literarischen Genre überhaupt. Dem Kriminalroman. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass es neiemals eine erschöpfende Aussage über ein Genre geben kann, und so ist auch dies hier nur eine kleine Übersicht. Es gibt so viele verschiedene Arten von Kriminalromanen, dass sich bereits in den 1920er Jahren eine der ersten “Queens of Crime”, Dorothy L. Sayers, beschwerte: “Es ist unmöglich, den Überblick über alle Krimis zu behalten, die heute produziert werden. Buch um Buch, Magazin um Magazin strömen aus der Presse, vollgestopft mit Morden, Diebstählen, Brandstiftungen, Betrügereien, Verschwörungen, Problemen, Rätseln, Mysterien, Nervenkitzel, Verrückten, Gaunern, Giftmördern, Fälschern, Würgern, Polizisten, Spionen, Geheimdienstlern, Detektiven, bis es so aussieht, als müsse die halbe Welt damit beschäftigt sein, Rätsel zu erfinden, damit die andere Hälfte sie lösen kann.” Wir aber beginnen unseren kleinen Rundgang mit einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Rätselgeschichte und Kriminalroman, bevor wir uns einige historische Daten näher ansehen. Beschäftigt man sich nicht ausschließlich mit deutschen Begrifflichkeiten, bietet es sich von vorneherein an, die hierzulande gebräuchlichen Genreumschreibungen nahezu allesamt zu verwerfen. Das Englische ist die literaturwissenschaftliche Leitsprache für populäre Literatur, daran ändern auch die länderspezifischen Eigenheiten nichts. Eines von vielen Beispielen ist die Mystery Fiction, also die “Rätselgeschichte”, die bei uns kaum als Begriff verwendet wird. Stattdessen wird der englische Begriff “Mystery” behalten und für eine Form der phantastischen Erzählung verwendet, die eigentlich der Weird Fiction nahe steht, während “Mystery Fiction” zur Krimnalliteratur wird. Das wäre in Wahrheit die Crime Fiction, die sich aber von der Mystery Fiction wiederum unterscheidet. In der “Rätselgeschichte” wird ein Verbrechen begangen. Das ist zwar häufig ein Mord, aber nicht immer. Die Handlung schreitet voran und zeigt, wie das Verbrechen aufgelöst wird: Wer hat es getan und warum? (Der Fairness halber muss gesagt werden, dass sich daraus wiederum zwei Subgenres ableiten lassen: Whodunit und Whydunit). Die besten Rätselgeschichten erforschen oft die einzigartige Fähigkeit des Menschen zur Täuschung – insbesondere der Selbsttäuschung – und zeigen die Grenzen des menschlichen Verstandes auf. Tatsächlich wird dieses Genre als das intelligenteste der Spannungsliteratur angesehen. Gewalt ist hier nicht die treibende Kraft, sondern das Spiel des Intellekts. Wie können wir überhaupt so etwas wie Wahrheit erkennen? Ein Mysterium ist per definitionem etwas, das sich dem üblichen Verständnis entzieht, und vielleicht ist das der Grund, warum “Mystery” im deutschen Sprachgebrauch eine abgeschwächte Form der Horrorliteratur bezeichnet. In der eigentlichen Kriminalgeschichte liegt der Schwerpunkt auf dem Willenskonflikt zwischen dem Helden des Gesetzes und dem Gesetzlosen, sowie auf ihren unterschiedlichen Ansichten über die Moral und die Aspekte der Gesellschaft, die sie repräsentieren. Die besten Kriminalgeschichten handeln von einer moralischen Abrechnung des Helden mit seinem ganzen Leben oder bieten eine neue Perspektive auf das Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum. Was ist eine gerechte Gesellschaft? Die Erzählwelt des Romans ist aus dem Gleichgewicht geraten, irgendwo zwischen einem Naturzustand (wo Chaos herrscht und diejenigen mit Geld und/oder Waffen die Macht ausüben) und einem Polizeistaat (wo Paranoia herrscht und der Staat die Macht monopolisiert). Der Held hofft, dieses Ungleichgewicht in irgendeiner Weise zu korrigieren. Andere moralische Themen können die Herausforderung von Anstand, Ehre und Integrität in einer korrupten Welt sein, die individuelle Freiheit gegenüber Recht und Ordnung, und das Spannungsfeld zwischen Ehrgeiz und Verpflichtungen gegenüber anderen. Zur Geschichte des Kriminalromans Schauen wir uns jetzt etwas in der geschichtlichen Entwicklung des Genres um. Obwohl es leicht die ein oder andere Seite zu finden gibt, die behauptet zu wissen, was wirklich der erste Krimi der Weltgeschichte war, ist es fast unmöglich, so ein Kunstwerk tatsächlich zu benennen. Manchmal wird sogar die Geschichte von Kain und Abel genannt, und in diesem Fall wäre wohl Gott der Detektiv. Da er allerdings allwissend ist, ist das keine große Sache. Den “drei goldenen Äpfeln” aus Tausendundeiner Nacht wird ebenfalls manchmal die Ehre zuteil, aber ob es sich dabei auch nur im entferntesten Sinne um einen Krimi handelt, ist fraglich, da der Protagonist keine Anstrengungen unternimmt, das Verbrechen aufzuklären und den Mörder der Frau zu finden. Deshalb behaupten wieder andere, der Pokal sollte an ein anderes Märchen mit dem Titel “Die drei Prinzen von Serendip” übergehen, einem mittelalterlichen persischen Märchen, das auf Sri Lanka spielt (Serendip ist der persische Name für diese Insel). Die Prinzen sind hier die Detektive und finden das vermisste Kamel eher durch Zufall (oder durch ihre “Serendipität”; dieses Wort wurde von Horace Walpole, dem Autor der ersten Gothic Novel, geprägt und ist seither in Gebrauch. Es bezeichnet wertvolle Dinge, nach denen man nicht gesucht hat und auf die man aus heiterem Himmel stößt). Der erste Kriminalroman Die erste moderne Kriminalgeschichte wird Edgar Allan Poe und den “Morden in der Rue Morgue” (1841) zugeschrieben, aber in Wirklichkeit ist E. T. A. Hoffmanns “Das Fräulein von Scuderi” mehr als zwanzig Jahre älter. Es gibt auch eine Erzählung mit dem Titel “The Secret Cell” aus dem Jahr 1837, die von Poes eigenem Verleger William Evans Burton geschrieben wurde und einige Jahre älter ist als “Die Morde in der Rue Morgue” und ein frühes Beispiel für eine Detektivgeschichte darstellt. In dieser Erzählung muss ein Polizist das Geheimnis eines entführten Mädchens lösen. Als erster Kriminalroman wird oft “Der Monddiamant” (1868) von Wilkie Collins genannt, “Das Mysterium von Notting Hill” (1862) von Charles Warren Adams ist ihm jedoch fünf Jahre voraus und somit der tatsächlich erste Kriminalroman, zumindest wenn man den Literaturwissenschaftlern glauben mag. In aller Regel sollte man das nämlich nicht so sehr, schließlich hatte Voltaires mehr als ein Jahrhundert vorher erschienener “Zadig” (1748) keinen unerheblichen Einfluss auf Poe und seinen C. Auguste Dupin. Andere erwähnen Dickens’ Roman “Bleak House” (1853) als einen wichtigen Meilenstein in der Entstehung des modernen Kriminalromans, da er mit Inspektor Bucket einen Detektiv einführt, der den Mord an dem Anwalt Tulkinghorn aufklären muss, wobei das detektivische Geschehen nur den letzten Teil des Buches ausmacht. Der berühmteste Detektiv ist Sherlock Holmes Sherlock Holmes ist ohne Zweifel der berühmteste fiktionale Detektiv, der je geschaffen wurde, und neben Hamlet, Peter Pan, Ödipus (dessen Geschichte tatsächlich als die erste Detektivgeschichte der gesamten Literatur bezeichnet werden kann), Heathcliff, Dracula, Frankenstein und anderen zu den berühmtesten fiktionalen Figuren der Welt gehört. Holmes wurde natürlich von Sir Arthur Conan Doyle geschaffen und ist weitgehend eine Mischung aus Poes Dupin (einige von Dupins Ticks tauchen kaum verschleiert in den Sherlock-Holmes-Geschichten auf) und Dr. Joseph Bell, einem Arzt, der Doyle an der Universität von Edinburgh unterrichtete, als dieser dort Medizin studierte. Sherlock Holmes macht hingegen landläufiger Meinung keine wirklichen Deduktionen: Streng genommen nimmt seine Analyse die Form einer Induktion an, die etwas völlig anderes ist. In der Logik bedeutet Deduktion, Schlussfolgerungen aus allgemeinen Aussagen zu ziehen, während die Induktion konkrete Beispiele beinhaltet (die Zigarettenasche auf der Kleidung des Klienten, der Lehm an seinen Stiefeln usw.). Alternativ dazu haben einige Logiker auch behauptet, dass Holmes’ Argumentationsketten etwas sind, das als Abduktion und nicht als Deduktion oder Induktion bezeichnet wird. Beim abduktiven Denken geht es darum, auf der Grundlage der vorliegenden Beweise eine Hypothese aufzustellen, was eine recht ordentliche Zusammenfassung dessen darstellt, was Holmes tut. Die okkulten Detektive Nach dem Erfolg der Sherlock-Holmes-Geschichten und der steigenden Popularität der Geistergeschichte und des Schauerromans im späten 19. Jahrhundert entstand ein neues Untergenre: Der okkulte Detektiv, der Verbrechen (möglicherweise) übernatürlichen Ursprungs aufklärte, oft im Sherlock-Stil. Dr. Hesselius von Sheridan Le Fanu wird oft als die erste Figur dieser Art zitiert, obwohl er selbst nicht viel auflöst. Meistens sitzt er nur auf einem Stuhl und hört zu. Die beliebteste Figur, die aus diesem Subgenre hervorging, war der “Psycho-Arzt” John Silence, der von Algernon Blackwood geschaffen wurde. Blackwoods John Silence: Physician Extraordinary (1908) war das erste belletristische Werk, das auf Reklametafeln am Straßenrand beworben wurde, und wurde in der Folge auch zu einem Bestseller. Das 20te Jahrhundert Im 20ten Jahrhundert war Endeavour Morse nur einer in einer langen Liste von Detektiven im Oxford-Millieu (Oxbridge genannt). Einige seiner bemerkenswerten Vorläufer sind Lord Peter Wimsey (geschaffen von Dorothy L. Sayers), und der Oxford-Professor Gervase Fen, aus der Feder von Edmund Crispin (mit richtigem Namen Bruce Montgomery). Crispin wurde als einer der letzten großen Exponenten des klassischen Kriminalromans bezeichnet. Die populärste Krimiautorin aller Zeiten aber ist Agatha Christie – und es gibt so viele faszinierende Fakten über Agatha Christie, dass wir sie in einem separaten Beitrag behandeln müssen. Der Detektivroman vor der viktorianischen Ära Es ist kein großes Geheimnis, dass der Kriminalroman und die Detektivgeschichte ihre Wurzeln in der Viktorianischen Ära haben, auch wenn man berücksichtigt, dass es Geschichten über Verbrechen schon weitaus früher gab. Zwischen 1800 und 1900 können etwa 6000 Titel verzeichnet werden, die in englischer Sprache erschienen sind. Denn auch das darf nicht verwundern: Die englischsprachigen Länder strotzten damals nur so vor kulturellen Innovationen, was bis heute bis auf kleine Ausnahmen auch so geblieben ist. Offensichtlich hatte das englische Lesepublikum im Viktorianischen Zeitalter einen großen und seit langem bestehenden Appetit auf Kriminalromane. Woher kam dieser Appetit? Der berühmte Newgate-Kalender bot ab 1773 der englischen Öffentlichkeit die erste regelmäßige Information über kriminelle Aktivitäten, indem er Geschichten veröffentlichte, die auf den wahren Taten der Gefangenen des Newgate-Gefängnisses basierten. Dort fand man zu den aufgeführten Namen die zur Last gelegten Verbrechen mit detailreichen Beschreibungen, so dass zusammen mit dem biografischen Hintergrund jedes Angeklagten Erzählungen entstanden, die den persönlichen moralischen Verfall betonten und, obwohl als lehrreiche Warnung gedacht, auch Appetit auf mehr solcher Geschichten machten. Die Geschichten breiteten sich also immer mehr aus und beeinflussten bald auch die Belletristik. Populäre Autoren sahen sich auf einmal veranlasst, über Verbrechen zu schreiben, um die Bereitschaft der Bevölkerung auszunutzen, für solche Geschichten zu zahlen. Die Romane, die so entstanden, nannte man Newgate-Romane. Oft wurde darin Sympathie für die Kriminellen ausgedrückt und die Umstände veranschaulicht, die sie zum Verbrechen trieben. Charles Dickens (Oliver Twist und Barnaby Rudge), Edward Bulwer-Lytton (Paul Clifford und Eugene Aram) und Harrison Ainsworth (Jack Sheppard) erfreuten sich großer Beliebtheit, indem sie spannende Erzählungen über das Leben realer oder erfundener Krimineller anboten. Die Tageszeitungen berichteten damals über Prozesse, darunter die Illustradet Times, die 1856 eine Sonderausgabe über den Prozess gegen Dr. William Palmer, der unter anderem seine Frau und mehrere seine Kinder vergiftet hatte, herausgab. Danach hatte sich die Auflage des Blattes verdoppelt. Einige Verbrechen schafften es sogar zum Theater. Es schien, dass die englische Öffentlichkeit nicht nur von Verbrechen fasziniert war, sondern auch alle möglichen Darstellungsformen genoss, von Prozessprotokollen über Nachrichten bis hin zu Romanen und Theaterstücken. Scotland Yard und die Polizeiarbeit Die Gründung des Londoner Metropolitan Police Service (Scotland Yard) 1829 und der City of London Police 1839 bot einen zweiten Aspekt der Betrachtung von Verbrechen: Wie wurden Kriminelle identifiziert, gefasst und vor Gericht gebracht? Hier gab es dramatische Möglichkeiten, den Kampf zwischen Polizei und Verbrecher, zwischen Gut und Böse zu erforschen. Die Einführung von Männern, die sich der Lösung von Verbrechen widmen, bot ein Modell des persönlichen Kampfes zwischen Detektiv und Schurken, das als eines der grundlegenden Merkmale des Kriminalromans angesehen werden muss. Innerhalb dieser morbiden Faszination für das Verbrechen gab es ein besonderes Interesse gegenüber Frauen, die zu Mörderinnen wurden. Das mochte vor allem daran liegen, dass Frauen seltener vor Gericht gestellt wurden als Männer und deshalb ein Kuriosum in der damaligen Überzeugung von der Frau als weniger gewalttätigen und eher nährenden und liebenden Beschützerin von Heim und Kindern darstellte. Diese Ansicht war auch der Grund, warum Frauen weit weniger streng behandelt wurden, oder eher auf eine medizinische Weise behandelt wurden. Gerichtsfälle wie die der Constance Kent, die 1865 ihren dreijährigen Halbbruder ermordete, indem sie ihm die Kehle durchschnitt, oder Madeleine Smith, die 1857 ihren Geliebten durch Arsen ermordete, präsentierten und bestärkten die Idee, dass Frauen die schlimmsten Verbrechen sowohl gegen die Zivilisation als auch gegen ihre eigene weibliche Natur begehen können. Ein Bericht in der Times (28.07.1865) stellt einen Mangel an Emotionen seitens Kent fest, wodurch ihr Todesurteil in Strafarbeit umgewandelt wurde. Madeleine Smith, die beschuldigt wurde, einen lästigen Liebhaber vergiftet zu haben, stand da genau auf der anderen Seite, nämlich der des zügellosen sexuellen Appetits, Trotz einer Staatsanwaltschaft, die entschlossen war, Smiths abfällige Moral wegen ihrer sexuellen Aktivität vor Gericht zu stellen, gelang es ihr, einem Schuldspruch zu entgehen. Rechtshistoriker vermuten, dass es zwar wenig Beweise gab, die sie mit dem Tod in Verbindung brachten, dass sie aber ebenso wahrscheinlich einem Schuldspruch entging, weil sie es ablehnte auszusagen und sich so einer direkten Befragung entzog, und weil sie während des neuntägigen Prozesses die Fassung bewahrte. Madeline Smith war als Giftmörderin kaum einzigartig. Ein Drittel aller identifizierten Kriminalfälle im 19. Jahrhundert, in denen Vergiftungen festgestellt wurden, betrafen Arsen. Es war leicht in der Apotheke erhältlich, um Hausschädlinge zu töten, und kostengünstig war es obendrein. Die Symptome einer Arsenvergiftung waren für einen Gerichtsmediziner nicht von anderen Magenerkrankungen zu unterscheiden, so dass für einen Giftmörder eine große Chance bestand, der Strafverfolgung zu entkommen. Zumindest bis 1836, denn von da an war Arsen im Körper nachweisbar und die Arsenvergiftungen wurden tatsächlich seltener. Außerdem gaben die neuen Scheidungsgesetze den Frauen eine Möglichkeit, einer unglücklichen Ehe zu entfliehen. Das Klischee, Gift sei eine Waffe der Frauen, hat seinen Ursprung in dieser Zeit und durch Mörderinnen wie Madeleine Smith bekommen. Die Beliebtheit der Kriminalgeschichten durch alle möglichen Medien gab es bereits 60 Jahre lang, als Königin Victoria 1837 den Thron bestieg und das Viktorianische Zeitalter einläutete. Der Grundstein für die erste Blütezeit des Kriminalromans war gelegt worden, darunter die Geschichten von Arthur Conan Doyle und seinem Detektiv Sherlock Holmes. Das wars für diesmal, aber wir werden wohl immer mal wieder zu den einzelnen Rubriken zurückkehren, um sie zu ergänzen.
  • 30. Review: Laura Purcell - Die stillen Gefährten | #30

    07:19
    Laura Purcell und ihr geisterhaftes Debüt. Einige Türen sind aus einem bestimmten Grund verschlossen … England, 1866: Als Elsie den reichen Erben Rupert Bainbridge heiratet, glaubt sie, nun ein Leben im Luxus vor sich zu haben. Doch nur wenige Wochen nach ihrer Hochzeit ist sie bereits verwitwet. Und dazu schwanger.Elsie bezieht das alte Landgut ihres verstorbenen Mannes. Da ihre neuen Diener ihr gegenüber äußert reserviert sind, hat Elsie nur die ungeschickte Cousine ihres Mannes zur Gesellschaft.Zumindest glaubt sie das. Doch in ihrem neuen Zuhause existiert ein verschlossener Raum. Als sich dessen Tür für sie öffnet, findet sie ein 200 Jahre altes Tagebuch und eine beunruhigende, lebensgroße Holzfigur – eine stille Gefährtin … (Verlagstext) Erschienen im Festa-Verlag Weiterführend: Die Anfänge der Schauerliteratur. Verwendete Musik: Hard Boiled by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/3857-hard-boiledLicense: https://filmmusic.io/standard-license Samba Isobel by Kevin MacLeodLink: https://incompetech.filmmusic.io/song/4316-samba-isobelLicense: https://filmmusic.io/standard-license Transkript Eine neue Stimme Laura Purcell – Die stillen Gefährten Laura Purcell ist eine neue Stimme unter den jungen Autorinnen, die sich gerade daran machen, der Gothic Novel wieder neuen Atem einzuhauchen. Man erfährt von dem gegenwärtige Geschehen im Augenblick noch nicht allzu viel, vielleicht gerade deshalb, weil sich die einschlägigen Medien der Sache noch gar nicht angenommen haben und es gibt auch noch keinen spezifischen Verlag, der einen Vorstoß wagt und die New Wave of Gothic Novel ausruft. Alles scheint noch etwas vage beäugt zu werden, aber nach und nach tauchen immer mehr Töchter Jane Austens auf, eine davon jüngst im Festa-Verlag. Laura Purcell ist eine dieser Anhängerinnen Jane Austens. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass es jene gibt, die Jane Austen nur von den höflichen Komödienadaptionen im TV kennen, dadurch aber gerne ausblenden, dass es durchaus eine Seite an Austen gibt, die der Gothic Novel zugerechnet werden kann. Da scheint es fast schon selbstverständlich, dass moderne Autorinnen, die eine düstere Thematik bedienen, hier neben Daphne du Maurier – Dafni di moriei -ihren Markstein finden. Namentlich: Northhanger Abbey, das exemplarisch für die schiere Brandbreite der Gothic Novel steht. Sie kann eine Satire mit Happy End sein, ein Abenteuer, das der Weird Fiction nahe steht, oder einfach nur Horror. Wenn wir das Wort “Gothic” auf Literatur anwenden, beschreiben wir häufig eine Atmosphäre: etwas Unbehagliches, das unsere Grenzen der Wahrnehmung verwischt. Die Autoren sind dabei immer erfinderischer geworden. Die klassischen Tropen – etwa einer Heldin, die im Nachthemd über neblige Felder rennt – sind längst nicht mehr notwendig, um das Prädikat der Gothic Novel aufrecht zu erhalten. Es ist eine neue Riege von (vornehmlich) Autorinnen, die ihr Werk jetzt neben das von Susan Hill, Sarah Waters, Diane Setterfield und anderen stellt und dem Genre neues Leben einhaucht. Ihre Arbeit fordert die Wahrnehmung der Leser heraus, und lässt sie im Unklaren darüber, was sie glauben sollen. Eine Erzählung, die mit der Idee der Welt jenseits dessen, was wir sehen können, kokettiert, erhöht dann auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir es mit einer modernen Gothic Novel zu tun haben. Die besten Schauergeschichten kommen meist ohne eine der obligatorischen Monster aus; eine perfekte Handhabung von Mythen, Legenden und klassischen Motiven stampft ohnehin jeden Zombie oder Werwolf ein. Das liegt vor allem daran, dass wir Monster zwar interessant finden können, aber wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, einem zu begegnen, eher gegen Null tendiert. Anders verhält es sich mit jenseitigen Welten, mit einer destabilen und unsicheren Realität. Eine Geschichte, in der “verhexte” Holzfiguren eine Rolle spielen, hat also ein ganz anderes Gewicht. Laura Purcell gelingt es, ein Gefühl durchdringender Angst heraufzubeschwören, indem sie auf tiefenpsychologisch wirksame Artefakte setzt. Die Bedrohung durch die stillen Gefährten Dabei scheint die Prämisse des Romans gar nicht so vielversprechend zu sein: Wir schreiben das Jahr 1865 im viktorianischen England. Nach einer harten Kindheit, in der sie den Tod ihres Vaters und den Abstieg ihrer Mutter in den Wahnsinn verkraften musste, hat Elsie endlich ihr Glück gefunden und ihre und die Zukunft ihres Bruders gesichert, indem sie den reichen Rupert Bainbridge heiratete, der bald nach der Hochzeit abreist, um ihr Anwesen auf dem Land, genannt The Bridge, für die Ankunft seiner neuen (und gerade schwangeren) Braut einzurichten. Nur wenige Wochen nach der Hochzeit kommt es jedoch zu einer Tragödie, als Rupert kurz nach seiner Ankunft auf The Bridge unter mysteriösen Umständen plötzlich stirbt. Die trauernde, verzweifelte Elsie trifft bald darauf selbst dort ein und muss schnell feststellen, dass die Dienerschaft sie von Anfang an nicht leiden kann und die Dorfbewohner The Bridge gleichermaßen hassen und fürchten. In der ersten Nacht, in der sie sich in dem alten, verfallenen Herrenhaus einquartiert und nur Ruperts mehr als fade alte Cousine zur Gesellschaft hat, hört Elsie bizarre Kratzgeräusche, die aus einer Kammer über ihr kommen, und als sie der Sache nachgeht, entdeckt sie ein seltsames, großes Stück Holz, das bemalt und in die sehr realistisch aussehende, lebensgroße Figur eines jungen Mädchens geschnitten wurde – eines jungen Mädchens, das Elsie seltsamerweise sehr ähnlich sieht. Außerdem entdeckt sie ein Tagebuch, das von der Vorbesitzerin des Hauses geschrieben wurde, in dem die Geschichte dieser und weiterer dieser “stillen Gefährten” geschildert wird. Dieser “stille Gefährte” wird schließlich als Verzierung am Fenster im Erdgeschoss neben dem Eingang des Hauses platziert, aber im Laufe der Zeit erkennt Elsie, dass seltsame Dinge passieren; die Figur verschiebt sich oder bewegt sich leicht im Laufe des Tages, ohne dass jemand im Haus zugibt, sie berührt zu haben, oder die Augen der Figur scheinen nicht in der Position zu sein, in der Elsie sie ursprünglich in Erinnerung hatte. Als immer mehr stille Gefährten im Haus auftauchen und einige der Figuren ein geradezu unheimliches Aussehen annehmen, wird Elsie klar, dass sie und ihr Baby in Gefahr sind und dass das, was in der Nacht rumort, in Wirklichkeit Holz sein könnte, das über den Boden schabt und hinter ihr her ist. Der Roman wechselt nun zwischen den Ereignissen von 1865 und 1635, um eine haarsträubende Geschichte zu offenbaren, hat aber noch einen dritten Erzählstrang, mit dem das Buch in einer Irrenanstalt kurz nach den Ereignissen in The Bridge beginnt. Dort erfahren wir, dass eine schrecklich zugerichtete Elsie auf ihren Prozess wartet, um entweder weggesperrt oder wegen Mordes gehängt zu werden. Es ist gerade jener Erzählstrang, der das wirklich eiskalte Ende beinhaltet und die vorher offenbarte Geschichte noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lässt. Laura Purcell präsentiert in ihrem Debüt eine einzigartige Geistergeschichte mit allem, was dazu gehört: einer unheimlichen Atmosphäre und einem zerfallenden Anwesen. Das einzige Problem sind die Dialoge; sie treffen im Grunde nicht den Ton der Zeit, in der das Buch spielt. Hat man sich erst einmal an die unauthentische Ausdrucksweise gewöhnt, spielt das aber keine große Rolle mehr (und moderne Leser werden es ohnehin kaum merken).